Förderung Labyrinth der
verwaisten Wünsche
Velbert
2021

Literarisches Talent
Portrait von Samer al Najjar.

Der Bachelor-Abschluss in Germanistik und Politikwissenschaft an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität ist fast geschafft – und auch Samer Al Najjars erster Roman in deutscher Sprache geht bald in den Druck. Für Lektorat, Produktion und Vertrieb bekommt der Schriftsteller Unterstützung vom Verein zur Förderung der Bücherstadt Langenberg e.V., der Heimstatt-Stiftung sowie der Adalbert und Thilda Colsman Stiftung.

Samer Al Najjar hat viel erreicht in den vergangenen Jahren. Geboren und aufgewachsen in Homs/Syrien, lebt und schreibt er seit 2014 in Velbert. Der Roman „Labyrinth der verwaisten Wünsche“, den Samer Al Najjar zunächst in arabischer Sprache verfasst hatte, ist bereits im Oktober 2020 im libanesischen Verlag Arab Scientific Publishers Inc. erschienen. Die vermeintlich eherne Regel, dass Literatur-Übersetzungen nur von Muttersprachlern vorgenommen werden sollen, hat der Autor zum Glück außer Kraft gesetzt: Samer Al Najjar hat seinen Roman selbst übersetzt und überrascht die Leserschaft mit wunderbaren Wortschöpfungen und ureigenen, kreativen Sprachbildern.

Die Hauptfigur im „Labyrinth der verwaisten Wünsche“ ist ein junger Syrer, dessen Kindheit von Krieg und Terror überschattet wird. Als junger Erwachsener nimmt er an Demonstrationen gegen das Gewaltregime teil und erlebt den Giftgas-Angriff auf Damaskus. Erste Station seiner Flucht aus Syrien ist die Türkei, wo der Protagonist jedoch keine innere Ruhe findet: Er entwickelt ein Borderline-Syndrom und eine posttraumatische Belastungsstörung, er leidet unter Flashbacks. Die Flucht ist noch nicht zu Ende, der junge Mann landet in Wien. Hier deutet sich für ihn eine positive Wendung seines Lebens an. „Nein, das ist nicht meine Autobiographie“, stellt Samer Al Najjar klar. Keine der Figuren ist real, aber sie erscheinen wie „Personen, denen wir jeden Tag auf der Straße begegnen könnten“, stimmt er seine Leser ein. Ihm ist es ein wichtiges Anliegen, Licht auf die psychischen Folgen von Kriegs- und Fluchterfahrungen zu werfen. „Die Posttraumatische Belastungsstörung ist ein weit verbreitetes Phänomen – und sie trifft häufig kriegsüberlebende und geflüchtete Menschen“, erklärt der Autor. „Darüber gesprochen wird allerdings nur selten, auch die Geflüchteten selbst vermeiden das Thema.“

Das „Labyrinth der verwaisten Wünsche“ ist Samer Al Najjars erster Roman, aber keineswegs sein literarisches Debüt: Unter dem Titel „Die salzige Heimat“ hatte Samer Al Najjar bereits 2018 eine Kurzgeschichtensammlung veröffentlicht. Im Jahr darauf beteiligte er sich mit einem literarischen Text zum Artikel 8 des Grundgesetzes an einem Projekt der Düsseldorfer Gruppe „Schreiben ohne Grenzen“. Im November 2019 trug er im Bürgerhaus Langenberg auf der Veranstaltung „Musik-Brücke“ eine neue Kurzgeschichte vor, die er mit nur einem Wort betitelt hatte: „Heimat“! Mit freundlicher Genehmigung von Samer Al Najjar veröffentlichen wir hier diesen Text, der die Zuhörer im Bürgerhaus zutiefst berührte.
2020 folgte mit „Es geschah in Homs“ eine weitere Geschichtensammlung. In diesem Jahr steuerte er einen Text bei zur Sammlung „Velbert ist meine Heimat! Velberter/innen erzählen von ihrer Heimat“, die von Dieter Klemp herausgegeben worden ist.

Samer Al Najjar hat in Velbert einen Ort gefunden, dem er sich zugehörig fühlt und an dem er Pläne schmieden kann. Wie die aussehen? Er möchte weiter studieren bis zum Masterabschluss, parallel auch weiter literarisch schreiben und – nach Corona – wieder Lesungen halten, sehr zur Freude seiner Freunde und Zuhörer hier „in Übersee“.

Samer al Najjar
„Heimat“

Frühling 2014

Nun bin ich hier angekommen. In Übersee. In einer kleinen Stadt namens Velbert, deren Menschen, Kultur, Sprache und Geschichte ich überhaupt nicht kenne. Als ich hierher kam, wusste ich nicht einmal, wo ich landen werde.

Ich bin angekommen und sehe mich um. Mir scheint einfach alles fremd zu sein. Das ist kein schönes Gefühl… Ich bin jetzt tausende Kilometer von meiner Heimat entfernt, wo der Tod die Herrschaft an sich gerissen hat. Ab und zu blicke ich zurück – in die Tiefe der Vergangenheit, als ich meine Heimat verlassen musste. Nicht nur die Heimat habe ich verlassen. Hinter mir habe ich einen großen Kampf gelassen, Millionen von Erinnerungen, eine Kindheit, die sich auf mein Leben immer noch auswirkt und von der noch Spuren da sind und einen großen Traum von einer besseren Welt, deren Bevölkerung gern darin lebt.

Ich sehe mich um. Das Gefühl, fremd zu sein, zieht mich nach und nach ins Graue. Ich versuche, Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten zwischen Homs und Velbert zu finden. Oder zu erfinden? Vergeblich! Hier ist alles anders als dort. Was erwarte ich denn? Dass die Straßen mit orientalischer klassischer Musik gefüllt werden? Dass fliegende Händler durch die Gassen wandern und laut rufen? Dass es überall nach arabischem Jasmin duftet? Dass mein Opa vor der Tür mit seinem Tee sitzt oder sein Fahrrad repariert? Dass die Wege mit dem Weinlaub begedeckt sind?

Ich sehe mich um. Der Himmel ist immer noch blau. Die Luft – frisch. Die Berge – quasi hoch. Der Frühling – nett und angenehm. Es gibt einfach nichts Schöneres und nichts Besseres, was mich an meine Heimatstadt erinnert, als der Geruch der Erde nach dem Regen…

In dem Moment fängt es an, zu regnen. Ich atme die Luft tief ein und versuche, das Gefühl der Fremdheit des Exiles zu verdrängen. Ich versuche es zu verdrängen, dass man uns durch Unrecht und Verfolgung, durch Bomben und Folter auf die Flucht schickte. Ich versuche es zu verdrängen, wie schwer es mir fällt, hinzunehmen, dass wir nicht mehr zuhause bleiben durften.

Ich sehe mich um. Die Stadt hier ist mit alten bunten Häusern und modernen Geschäften sehr schön. Nur, sie ist fremd! In der Tat gefällt sie mir sehr. Sie ist kein New York und kein London, weder Paris noch Homs, wo ich geboren bin. Sie ist aber warm. Das spüre ich langsam und stelle fest, dass ich mir selbst die Möglichkeit gebe, diese Stadt – meine neue Heimat, zu lieben.

Angekommen in „Übersee“:
Samer Al Najjar hat in Velbert
einen Ort gefunden,
dem er sich zugehörig fühlt

Angekommen in „Übersee“:
Samer Al Najjar hat in Velbert
einen Ort gefunden,
dem er sich zugehörig fühlt

Zeichnung eines Mannes, auf dem Boden sitzen mit angezogenen Knien. In der Hand ein Würfel. Dazu ein Zitat in arabischer Schrift.

Sommer 2019

Ich lebe in dieser Stadt nun schon seit 5 Jahren. Ich kenne jeden einzelnen Stein in ihr, jede Straße und fast jedes Gesicht. Und ich bin mir heute sicher, dass auch Velbert mich liebt.

Ich befinde mich seit langer Zeit auf der Suche nach der Bedeutung und dem Sinn des Begriffs „Heimat“ und komme immer wieder zu dem Ergebnis, dass das Wort „Heimat“ nicht einfach einen Ort bezeichnen dürfte. Es bedeutet viel mehr als eine begrenzte geographische Fläche. Und viel mehr als ein reines „Wir-Gefühl“. Sie ist ein sicheres Dasein, die Anerkennung und die Akzeptanz.

Heimat ist überall dort, wo man sich frei, willkommen, sicher und zugehörig fühlt. Das spüre ich tatsächlich besonders in Velbert, wenn ich durch die Straßen laufe oder meinen Kaffee abends in der Stadt genieße.vWas unterscheidet eigentlich einen Menschen von einem Baum…? Genau! Richtig! Der Mensch kann abhauen, wenn es ihm nicht passt. Warum sollte man dann gegen seine Natur verstoßen, und an irgendeinem Ort bleiben, wenn es möglich ist, sich an einem anderen Ort aufzuhalten, wo man mit seiner Natur leben darf, egal, wie beschwerlich der Weg bis dahin zu sein scheint? Manche mögen es „Verrat“ nennen. Ich mag es als „selbstverständlich“ bezeichnen. Das ist ja menschlich. Der Mensch folgt in den gefährlichen Situationen in der Regel seiner Natur.

Die Bedeutung der Heimat, wie ich den Begriff verstehe, änderte sich stark, seitdem ich in Deutschland bin. Ich konnte in Velbert nicht nur eine neue Heimat, sondern auch mich selbst finden.

Sie ist eine kleine Stadt, die fast keiner kennt und ich strenge mich jedes Mal an, den Leuten zu erklären, wo Velbert liegt. Es reicht aber vollkommen, dass Velbert mir und meiner Familie die Sicherheit gegeben hat! Ich bin nicht in Velbert und nirgendwo in Deutschland geboren. Ich bin dort geboren, wo jetzt gelitten und gekämpft wird – in Syrien, meiner ersten Heimat, die ich nie vergessen habe und nie vergessen werde. Aber die Menschen, die ich hier kennengelernt habe, haben mir das Gefühl gegeben, zu denen und zu dem Ort, wo sie leben, zugehörig zu sein.vUnd heute, wenn ich nach einem anstrengenden Uni-Tag abends in Velbert ankomme, atme ich die Luft ein und flüstere mir leise zu: „Heimat“!